Glauser,
Friedrich (Charles)
Biografie:
*4.2.1896 Wien,
†8.2.1938
in Nervi bei Genua.
Friedrich Glausers Leben war
geprägt
vom ständigem Wechsel zwischen Internierung und Entlassung,
Entziehungskuren
und den Versuchen ein bürgerliches Leben zu führen. Seine
Morphiumsucht,
die ihn ungefähr seit dem 21. Lebensjahr begleitete, war zentrales
Triebmittel seines Lebens, brachte ihn ständig in Konflikt mit den
Behörden.
Auf Initiative des Vaters wurde
er 1917 wegen »liederlichen und ausschweifenden
Lebenswandels«
verbeiständet und 1918 entmündigt. Von 1921 bis 1923 war er
Fremdenlegionär
in Algerien und Marokko. Danach schlug er sich als Gelegenheitsarbeiter
in Paris und Charleroi (Belgien) durch. Er versuchte als freier
Schriftsteller
zu leben, hatte ständig finanzielle Probleme. Am Vorabend der
geplanten
Hochzeit mit der Krankenschwester und treuen Gefährtin Berthe
Bendel,
die er seit 1933 kannte, brach er zusammen und starb in den ersten
Stunden
des 8. Dezember 1938 in Nervi bei Genua.
Zwischen Flucht und Internierung
gab es in F. Glausers Leben eine Konstante: das Schreiben. »Es
ist
mir, auch wenn es mir schlecht gegangen ist, immer gewesen, als
hätte
ich etwas zu sagen, was außer mir keiner imstande wäre, auf
diese Art zu sagen.« Sein Thema waren die »kleinen
Leute«.
Immer wieder zeichnete er Figuren, die keine Chance haben, als asozial
abqualifiziert und durch Verwahr- und Internierungsmaßnahmen der
Gesellschaft aus den Augen geschafft werden. Der Einzelne versucht
»durchzukommen«,
scheitert aber an den Machtstrukturen der Gesellschaft. F. Glauser war
der erste deutschsprachige Schriftsteller, der sich ernsthaft mit dem
Kriminalroman
auseinander setzte. Mit seinem Konzept der Atmosphäre hat er das
Genre
grundlegend erweitert und ihm neue Tiefe gegeben. Seine Krimis stehen
am
Anfang der Entwicklung dieser Gattung im deutschsprachigen Raum und er
wird zu Recht als der Vater des deutschsprachigen Kriminalromans
bezeichnet.
F. Glauser hat neben seinen Romanen
mehr als hundert Erzählungen, Essays, Aufsätze und
autobiografische
Aufzeichnungen verfasst. Die folgende Bibliografie beschränkt sich
ausschließlich auf Kriminalromane und -erzählungen. Erfasst
ist jeweils die erste Veröffentlichung in Buchform, zuvor sind
seine
Romane und Erzählungen jedoch meist mehrfach in Zeitungen und
Zeitschriften
abgedruckt worden. F. Glausers Kriminalromane und -erzählungen
sind
beim Arche Verlag schienen, eine Neuedition des Gesamtwerks hat der
Limmat
Verlag ab 1992 herausgegeben. Seine Werke sind in die meisten
europäischen
Sprachen übersetzt.
Friedrich Glauser Nachlass-Inventar:
http://ead.nb.admin.ch/html/glauser.html
Friedrich Glauser bei WIKIPEDIA:
http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Glauser
Kriminalromane:
1936 Wachtmeister Studer,
Morgarten-Verlag;
1936 Matto regiert,
Jean-Christophe-Verlag;
1938 Die Fieberkurve, als:
Wachtmeister
Studers neuer Fall, Morgarten-Verlag;
1939 Der Chinese, als: Wachtmeister
Studers dritter Fall, Morgarten-Verlag;
1941 Die Speiche/Krock & Co.,
als: Wachtmeister Studers vierter Fall, Morgarten-Verlag;
1941 Der Tee der drei alten Damen,
Morgarten-Verlag
Krim.-Erz.: (in
Klammern das Entstehungsjahr):
1945 Die Hexe von Endor, (1928),
Verhör, (1933), Der alte Zauberer, (1933; geänd. Fassung),
König
Zucker, (1935; leicht geänd. Fassung), Totenklage, (1934;
gekürzte
Fassung), Kuik, (1937), in: Beichte in der Nacht. Gesammelte
Prosastücke,
Hrsg. Friedrich Witz, Artemis;
1986 Kriminologie (1934), Mord. Aus
der französischen Fremdenlegion (1925), Pech (1935), Der Tod des
Negers
(1933), Das uneinige Liebespaar (1933), und Knarrende Schuhe (1938),
in:
Wachtmeister Studers erste Fälle. Kriminalgeschichten, Hrsg. Frank
Göhre, Arche;
1992 Die Botschaft (1932/1933), in:
Der alte Zauberer. Das erzählerische Werk, Bd. II, 1930–1933,
Limmat;
1992 Rettung (1931), in: Der alte Zauberer. Das erzählerische
Werk,
Bd. II, 1930–1933, Hrsg. Bernhard Echte u. Manfred Pabst, Limmat
Funk: (Auswahl):
1943 Das Verhör, (Monodrama),
nach einer Novelle von F. Glauser, Bearbeitung: Alfred Rösler, EA
4.8.1943;
1947 Der Chinese,
(Kriminalhörspiel
nach dem gleichnamigen Roman von F. Glauser), Bearbeitung: Werner
Gutmann,
Regie: Albert Rösler, EA 1.10.1947;
1954 Wachtmeister Studer greift
ein, Radiobearbeitung nach Themen aus F. Glausers Krock & Co.,
Bearbeitung:
Peter Lothar, Regie: Albert Rösler, EA 15.7.1954
Film:
1939 Wachtmeister Studer, (110Min.,
s/w, Praesens-Film, Schweiz), Regie: Leopold Lindtberg; Buch: Richard
Schweizer,
Horst Budjuhn, Kurt Guggenheim nach dem gleichnamigen Roman von F.
Glauser,
mit Heinrich Gretler, Bertha Danegger, Anne-Marie Blanc u.a.;
1946/47 Matto regiert, (110Min.,
s/w, Praesens-Film, Schweiz), Regie: Leopold Lindtberg; Buch: Alfred
Neumann,
Leopold Lindtberg nach dem gleichnamigen Roman von F. Glauser, mit
Heinrich
Gretler, Heinz Woester, Elisabeth Müller, Olaf Kübler, Adolf
Manz u.a.;
1976 Krock & Co., (Bavaria-Atelier
GmbH für DRS und SDR), Regie: Rainer Wolffhardt, Drehbuch: Helmut
Pigge nach dem gleichnamigen Roman von F. Glauser, mit Hans Heinz
Moser,
Regina Lutz, Sigfrid Steiner u.a., EA 1977;
1978 Der Chinese, (Bavaria-Atelier
GmbH für DRS), Regie: Kurt Gloor, Drehbuch: Helmut Pigge nach dem
gleichnamigen Roman von F. Glauser, mit Hans Heinz Moser, Klaus Steiger
u.a., EA 25.2.1979 DRS;
1980 Matto regiert, (Bavaria Atelier
GmbH München u. SF/SRG im Auftrag des SDR), Regie: Wolfgang
Panzer;
Buch: Helmut Pigge nach dem gleichnamigen Roman von F. Glauser, mit
Hans
Heinz Moser, Fritz Lichtenhahn u.a., EA 14.9.1980 DRS
2001 Studers erster Fall, (TV-Krimi,
90Min., dschoint Ventschr, Schweiz), Buch und Regie: Sabine Boss,
adaptiert
nach dem Roman Matto regiert von F. Glauser
Sonstige
Publ.:
1988 Der Chinese, (Krimi-Comic),
Gestaltung: Hannes Binder, basierend auf dem gleichnamigen Roman von
F.Glauser,
Arche;
1988 Matto regiert,
(Kriminalhörspiel,
60Min.), Sprecher: Peter Ehrlich, Heinz Bühlmann u. a., 1 CD
Audio-Verlag;
1990 Krock & Co.,
(Kriminalhörspiel,
59Min.), Sprecher: Peter Brogle, Heinz Bühlmann, Renate Steiger u.
a., 1 CD, Audio-Verlag;
1990 Krock & Co., (Krimi-Comic),
Gestaltung: Hannes Binder nach dem gleichnamigen Roman von F. Glauser,
Arche;
1992 Knarrende Schuhe, (Bilder-Krimi),
Zeichnungen: Hannes Binder, nach der gleichnamigen Erzählung von
F.
Glauser, Arche;
1999 Wachtmeister Studer,
(Kriminalhörspiel,
59Min.), Bearbeitung: Markus Michel, Regie: Martin Bopp, Audio-Verlag,
1 CD;
1999 Schlumpf Erwin Mord,
(Kriminalhörspiel,
366Min.), gelesen von 23 Autoren, (Felix Huby, Roger Graf, Jan Eik,
Jochen
Senf, Hansjörg Martin, Walter Wehner, Ingrid Noll, Jürgen
Alberts,
Helga Anderle u. a.), 6 CDs, Kein & Aber; 2000 Krock & Co.,
(Kriminalhörspiel,
58Min.), Bearbeitung: Markus Michel, Regie: Martin Bopp, Audio-Verlag,
1 CD, 1Booklet;
2000 Ein scheußlich einsames
Leben, Originalaufnahme aus dem Jahre 1937 untermalt mit Musik- und
Geräuschaufnahmen
aus Marokko. Prolog Frank Göhre, 1 CD u. Booklet, Dittrich
Quelle:
Lexikon der deutschsprachigen Krimi-Autoren
In einer Replik
zu den "Zehn Geboten für den
Kriminalroman" von Stefan Brockhoff in der Zürcher
Illustrierten vom 5.2.1937 schrieb Friedrich Glauser einen
"Offenen Brief über die "Zehn Gebote für den Kriminalroman",
der jedoch nicht in der Züricher Illustrierten veröffentlicht
wurde.
Friedrich Glauser: Offener Brief über die
»Zehn Gebote für den Kriminalroman«
La Bernerie [Frankreich], den 25. 3. 37
Sehr geehrter und lieber Kollege Brockhoff,
vor einiger Zeit haben Sie vom Sinai der Zürcher Illustrierten
herab zehn Gebote für den Kriminalroman erlassen, und über
die Forderungen, die Sie aufstellen, hätte ich gerne mit Ihnen
diskutiert. Einige Behauptungen haben meinen Widerspruch und meine
Kritik geweckt – nur hätte ich Ihnen gerne meine Bemerkungen
mündlich mitgeteilt. Es scheint mir ungerecht, dass Sie einen
Monolog von mir schweigend über sich ergehen lassen müssen,
ohne korrigierend, richtigstellend eingreifen zu können, falls mir
ein Irrtum unterläuft oder ein Missverstehen Ihrer Gedanken. Da
wir aber – genau wie die beiden Königskinder – nicht
zusammenkommen können, muss unsere Auseinandersetzung, unsere
friedliche und freundliche Auseinandersetzung, in den Spalten der
Zürcher Illustrierten vor sich gehen.
Sie wird die Form eines kleinen Sängerkrieges
annehmen, in welchem das Publikum die Rolle der Elisabeth (so
hieß die Dame doch, für die Wagner den Einzug der
Sänger komponiert hat?) übernehmen wird. Ohne
Musikbegleitung. Und das ist gut so.
Ich habe immer gefunden, das Alte
Testament habe mit der Aufstellung der Zehn Gebote – deren
Übertretung, nebenbei bemerkt, uns immer noch den Stoff für
unsere Romane liefert – einen bedauerlichen Präzedenzfall
geschaffen. Alle Leute, die den dunklen Drang verspüren, ihren
geplagten Mitmenschen Vorschriften zu machen, fühlen sich seither
verpflichtet, ihr Thema in zehn Teile zu gliedern, auch wenn es mit
fünf, vier oder drei Geboten erschöpft wäre. So hat man
uns geplagt mit den Zehn Geboten für die Hausfrau und den Zehn
Geboten für den Junggesellen – auch Staubsaugerbesitzer und
Radiohörer wurden für würdig erachtet, mit der Zahl zehn
geplagt zu werden.
Zehn Gebote! … Sei’s drum. Und meinetwegen Zehn
Gebote für den Kriminalroman. Vielleicht erlauben Sie mir die
Bemerkung, dass ein Roman, als Menschenprodukt, als lebloses Ding, mit
Geboten nicht viel anfangen kann. Die Gebote gelten eigentlich für
den Verfasser. Aber ich will gern zugeben, dass die Formel: »Zehn
Gebote für den Kriminalromanschriftsteller« nicht gerade
sehr wohllautend geklungen hätte …
Dafür geben Sie mir vielleicht etwas anderes
zu: dass nämlich ein Teil Ihrer Forderungen sich von selbst
versteht. Der Londoner Detection Club, der einige Schriftsteller der in
Frage stehenden Gattung gruppiert – Agatha Christie, Dorothy Sayers,
Crofts, Cunningham –, schreibt in seinen Statuten seinen Mitgliedern
das vor, was Sie, lieber Kollege, ausspinnen: Wahrscheinlichkeit der
Handlung, Verzichten auf Banden samt Chefs, faires Spiel, Vermeiden
unnötiger Sensation, anständige Sprache.
Anständige Sprache. In unserem
Falle anständiges Deutsch. Dies Postulat habe ich in Ihren Geboten
vermisst. Mit Unrecht wahrscheinlich; es schien Ihnen wohl, dieses
Postulat, so selbstverständlich, dass Sie es nicht weiter
erwähnt haben.
Der Kriminalroman, wie er heute in den
angelsächsischen Ländern blüht, gedeiht und wuchert,
ist, wie Sie ganz richtig sagen, ein Spiel; ein Spiel, das nach
gewissen Regeln gespielt wird. Die Einhaltung dieser Regeln versteht
sich gewöhnlich von selbst – nur ist es manchmal schwer, diese
Regeln einzuhalten. Da werden Sie mir recht geben.
Durch das Spielerische, das in ihm steckt, ist der
Kriminalroman verwandt mit seinem salonfähigeren Bruder, der sich
kurzweg »Roman« nennt und darauf Anspruch erhebt, zu den
Kunstwerken zu zählen. Und diese Kunstwerke wurden gelesen, bis
sie Kunstprodukte wurden, künstliche Produkte, Angelegenheiten
gewisser Cliquen, einiger Snobs. Bis in ihnen nur noch
Seelenzerfaserung getrieben wurde oder der Autor in Philosophie,
Psychologie, Metaphysik machte und die Hauptanforderungen des Romans
vergass, als da sind: Fabulieren, Erzählen, Darstellen von
Menschen, ihrem Schicksal, der Atmosphäre, in der sie sich
bewegen. Auch Spannung musste der gute Roman enthalten. Es war eine
andere Art Spannung als die, welche in Kriminalromanen herrscht, aber
eine Spannung musste vorhanden sein. Und weil der Roman die Spannung
als unkünstlerisch verwarf, erlebte der verachtete Bruder, der
Kriminalroman, jenen Erfolg, der ihn in den Augen gewisser Leute zum
Parvenü stempelte.
Doch all dies wissen Sie ja besser
als ich, und nicht, um Ihnen einen Vortrag über die Entwicklung
des Romans zu halten, schreibe ich Ihnen. Doch war diese Vorrede
nötig.
Denn: Der Kriminalroman hat von allen Eigenschaften,
die den Roman ausmachen, einzig die Spannung beibehalten. Eine
besondere Art Spannung. Ein wenig fabuliert er auch, jedoch ohne die
sicheren Pfade zu verlassen. Und freiwillig verzichtet er auf das
Wichtigste: das Darstellen der Menschen und ihres Kampfes mit dem
Schicksal.
Menschen und ihr Schicksal! Bewusst verzichtet der
Kriminalroman auf diese künstlerische Eigenschaft. Er ist, in
seiner heutigen Form, durchaus formal-logisch, abstrakt. Und dies
möchte ich Ihnen vor allem auf Ihre »Zehn Gebote«
antworten: Ein Roman, nach diesem Rezept geschrieben, ist
schicksalslos. Der Mord, der ein-, zwei-, dreifache Mord, am Anfang, in
der Mitte und vielleicht auch gegen Ende geschieht nur, um einer
Denkmaschine Stoff zu logischen Deduktionen zu geben. Ich gebe zu, das
kann reizvoll sein. Als die Methode neu war – denken Sie an den Mord in
der Rue Morgue und an den Vater aller Sherlock Holmes, Hercule Poirots,
Philo Vances, Ellery Queens, an den Großvater aller Inspektoren,
Kommissäre von Scotland-Yard: an den Chevalier Dupin E. A. Poes –,
als die Methode neu war, war sie sogar künstlerisch, aber
vielleicht doch nur, weil sie ein Dichter handhabte. Jetzt aber ist sie
abgegriffen – um nicht zu sagen abgeschmackt.
Ein sogenannter guter Kriminalroman – mag sein
aufklärender Held nun zur Behörde gehören oder privat
detektiven – ist wohl stets folgendermaßen konstruiert:
Am Anfang schuf der Autor das Personenverzeichnis
und setzte es, um die Gehirntätigkeit des Lesers zu schonen, auf
die Kehrseite des Titelblatts. Im ersten Kapitel passiert der Mord.
Hernach sind die Seiten öde und leer bis zum Auftauchen des
Schlaumeiers.
Dieser ist ein Mensch, »gewiss ein geschickter und findiger
Mensch« (wie Sie schreiben) mit einem Psychologenblick. Diesen
Blick benutzt er dazu, um Geheimnisse zu enträtseln. Und jede
Person des Verzeichnisses trägt ein solches im Busen – und sorgsam
wahrt sie es. Aber das nützt ihr nicht viel. Der Schlaumeier
erscheint, wirft der Person seinen Psychologenblick in einen
unsichtbaren Einwurf, zieht am Ring und empfängt Geständnis
samt notwendigem Indizium. Nur die Hand braucht er auszustrecken. Der
gleiche Vorgang wiederholt sich bei den anderen Personen – und wenn der
Schlaumeier bei allen seinen Psychologenblick eingeworfen und sein
Ticket empfangen hat, geht er hin, wie mit einem simplen
Rabattsparmarkenbüchli, und kauft sich den Täter. Die
Lösung aber blühet ihm als Blümlein am Wege. Das
Blümlein Lösung steckt sich der Schlaumeier aufs
Hütelein oder verziert mit ihm sein Knopfloch und wandert weiter,
anderen Taten zu. Der Täter jedoch, der »gewiss ein
böser Mensch ist (im allgemeinen)« wie Sie schreiben –, der
Täter büsst seine Untaten unter dem elektrischen Stuhl, auf
dem Fallbeil oder über dem Galgen – wenn er es nicht vorzieht,
Selbstmord zu begehen. Gut. Alles gut und recht! Aber warum ist der
Täter »gewiss ein böser Mensch«? Gibt es gewiss
böse Menschen im allgemeinen und ungewiss gute im besonderen? Gibt
es überhaupt gute und böse Menschen? Sind Menschen nicht
einfach Menschen – weder Bestien noch Heilige –, durchschnittliche
Menschen, keine Heroen, keine Schlaumeier, keine geschickten, findigen,
keine gewiss bösen, sondern einfach Menschen, mögen sie nun
Glauser, Brockhoff, Hitler, Riedel heißen oder Emma Künzli
und Guala? Haben wir Schreiber nicht die Pflicht – auch wenn wir
Spannung machen, auch wenn wir idealisieren –, immer und immerfort
(ohne zu predigen, versteht sich) darauf hinzuweisen, dass nur ein
winziger, ein kaum sichtbarer Unterschied besteht zwischen dem
»gewiss bösen Menschen (im allgemeinen)« und dem
»geschickten, findigen mit den planmäßigen
Überlegungen«?
Sie sehen, Fragen plagen mich wie Bremen im Juli:
Aber, wenn Sie Falltüren, Banden, geheimnisvoll undurchsichtige
Apparate, die Todesstrahlen entsenden, wenn Sie bereit sind, den
»romantischen Zauber« abzuschaffen, und ihn verpönen,
dann müssen Sie auch die Einteilung in böse und gute Menschen
abschaffen. Denn diese Einteilung ist genauso ein fauler romantischer
Zauber wie die armen Falltüren und die Requisiten einer Zeit, die
naiver war als die unsrige.
Die Handlung eines Kriminalromans lässt sich in anderthalb Seiten
gut und gerne erzählen. Der Rest – die übrigen
hundertachtundneunzig Schreibmaschinenseiten – sind Füllsel. Es
kommt nun darauf an, was man mit diesem Füllsel anstellt. Die
meisten Kriminalromane sind bestenfalls verlängerte Anekdoten –
denn in unserer chaotischen Zeit unterscheidet man die literarischen
Ordnungen nicht mehr nach dem Inhalt, sondern einzig und allein nach
der Länge: Drei Seiten: short story, Kurzgeschichte. Fünfzehn
bis zwanzig Seiten: Novelle. Hundert Seiten: Kurzroman. Ja, das gibt es
auch! Lachen Sie bitte nicht. Der Kurzroman ist von Leuten erfunden
worden, die nicht Englisch konnten und eine short novel, die einfach
eine Erzählung war, mit Kurzroman übersetzt haben. Über
hundert Seiten beginnt der Roman, der Kriminalroman, dies Zwitterding
zwischen einem Kreuzworträtsel und einem Schachproblem …
Warum ist er nicht mehr? Warum
strebt er nicht höher?
Die Leute, die in ihm auftreten,
sind weiter nichts (gewöhnlich, es gibt Ausnahmen) als
Bahnhofsautomaten: rot, blau, grün, gelb angemalt.
Bahnhofsautomaten, in deren unsichtbaren Einwurf der Schlaumeier statt
eines vulgären Zwanzigrappenstückes seinen Psychologenblick
einwirft. Keine Menschen. Sie stehen, diese Automaten (und Sie kennen
sie wie ich: die Millionärsgattin oder Millionärstochter, den
Haushofmeister, der gewöhnlich Butler heißt, den Arzt –
schurkisch oder nicht –, das Zimmermädchen, den Sekretär und
wie sie alle heissen), sie stehen im luftleeren Raum. Denn all
die Landhäuser, all die buildings, all die
Millionärspaläste, die uns vorgesetzt werden, haben nicht
einmal die greifbare Wirklichkeit eines zugigen Bahnsteiges (der Ort,
wo die Automaten eigentlich stehen sollten) mit seinem Geruch nach
Kohlenrauch, mit seinem Gepäckraum, in dem es nach Leder und Tabak
riecht, mit der monotonen Musik seiner Signalapparate …
Spannung ist ein vorzügliches Element; sie
erleichtert dem Publikum die Anstrengung des Lesens. Sie lenkt den
Geist, den von Sorgen geplagten Geist, von den Widerwärtigkeiten
des Lebens ab, sie hilft vergessen. Genau wie irgendein Schnaps, genau
wie irgendein Wein. Aber wie es auch echten Kirsch und Façon
gibt, gerade so gibt es die echte Spannung und die Fuselspannung –
verzeihen Sie das neue Wort. Und Fuselspannung nenne ich jede Spannung,
die nur ein Ziel kennt: die Auflösung, das Ende des Buches. Sie
gestattet nicht, diese Ersatzspannung, jede Seite des Buches als
Gegenwart zu betrachten, in welcher der Leser minuten- oder
sekundenlang lebt. Dass diese kurzen Zeitabschnitte, diese Minuten und
Sekunden sich ihm zu Stunden, zu Tagen, zu Monaten weiten können,
genau wie im Traum, das Wecken dieses Gefühls würde mir erst
die Echtheit der Spannung beweisen. Solange die Spannung die Gegenwart
verneint, muss die Zukunft die Rechnung bezahlen. Beim Lesen eines
Buches geht es noch harmlos zu. Einzig ein öder Geschmack im
Munde, ein leeres Gefühl im Kopfe zeigt an, dass die Spannung
verfälscht war. Sie hat auf eine Lösung hingearbeitet, sie
hat es versäumt, die guten Traumbilder zu wecken, nichts klingt
nach, weil nichts in uns zum Klingen gebracht worden ist.
Diese Hast nach der Zukunft auf Kosten der Gegenwart
– ist sie nicht der Fluch unserer Zeit? Wir haben überhaupt
vergessen, dass es eine Gegenwart gibt, die gelebt werden will. Wir
haben vergessen, dass es sich lohnt, diese Gegenwart zu leben und sie
nicht zu verschlingen wie ein Fresser, der Suppe, Fleisch, Gemüse
hinunterschlingt, weil er nur an den Kuchen denkt, der am Ende der
Mahlzeit winkt. Oder wie ein Rennfahrer benimmt sich der heutige
Mensch, der durch die schönste Gegend keucht, nur um irgendeinen
farbigen Pullover zu erringen, in dem er nicht schöner aussehen
wird – im Gegenteil, er wird seine Ähnlichkeit mit einem kranken
Äfflein nur deutlicher machen.
Besinnung und Besinnlichkeit im
Lesen zu wecken, auch mit unseren bescheidensten Kräften und
Mitteln, sollte für uns eine Pflicht sein. Glauben Sie mir, es
lohnt sich, diejenigen zu enttäuschen, die nach den ersten zehn
Seiten des Buches gleich am Ende nachblättern, um nur so schnell
als möglich zu erfahren, wer der Täter ist …
Wie einverstanden bin ich mit Ihnen,
wenn Sie schreiben, der Täter müsse eine genügend grosse
Rolle spielen, damit man für ihn und seine Taten Interesse
aufbringe. Wie aber, wenn es uns gelingen könnte, die Spannung des
Buches so zu gestalten, dass es dem Leser fast gleichgültig ist,
wer der Täter ist? Wenn es uns gelingt, den Leser mit viel
Hinterlist in unser Traumgespinst zu locken, wenn er mit uns
träumt in kleinen Zimmern, die er nie gesehen hat, wenn er mit
Menschen spricht, die ihm plötzlich wirklicher scheinen als seine
nächsten Bekannten, wenn er Dinge des täglichen Lebens, die
er nicht mehr beachtet, weil sie ihm allzu geläufig geworden sind,
plötzlich in neuer Beleuchtung sieht, im Lichte unseres
Scheinwerfers, den wir für ihn erfunden haben? Wie aber, wenn es
uns gelänge, jedes Kapitel unserer Geschichte mit einer anderen
Spannung zu laden, nicht der primitiven, die ihn vorwärts hetzt,
einer anderen, habe ich gesagt! Wenn es uns gelingt, Sympathien und
Antipathien in ihm zu wecken für unsere Geschöpfe, für
die Häuser, in denen sie wohnen, für die Spiele, die sie
spielen, für das Schicksal, das über ihnen schwebt und sie
bedroht oder ihnen lächelt?
Das alles tat früher der
»Roman« schlechthin, das Kunstwerk. Wäre es nicht eine
lohnende Aufgabe für uns, ihm wieder Leser zuzuführen durch
seinen verachteten Bruder, den Kriminalroman? Vielleicht gelingt es
uns, dem Kriminalroman die Verachtung zu nehmen, die Leute von
Geschmack, Leute von Unterscheidungsvermögen ihm entgegenbringen?
Und wenn wir es ganz geschickt anstellen, wenn wir es verstehen, auch
die andere, die »Kriminalspannung« nicht ablaufen zu
lassen, so wird es uns vielleicht gelingen, jene zu erreichen, die nur
John Kling oder Nick Carter lesen … Wir brauchen und sollten uns nicht
schämen, Kriminalliteratur zu produzieren. Haben nicht auch
Grössere, als wir es sind, Verbrechen und ihre Aufklärung
geschildert? Hat Schiller nicht den Pitaval übersetzt und Conrad
nicht den Geheimagenten geschrieben? Und Stevenson seinen
Selbstmörderklub?
Aber so wenig ein gutes Kochbuch allein genügt,
um ein Risotto kunstgerecht zuzubereiten, so wenig genügen
»Zehn Gebote«, um einen guten Kriminalroman zu schreiben.
Sie werden verzeihen, wenn ich mir erlaubt habe, Ihre Forderungen mit
einigen anderen zu ergänzen. Neu sind meine Forderungen nicht –
und wahrscheinlich hätte ich sie nie formulieren können, wenn
ich sie nicht angewandt gesehen hätte. Und bevor ich von einem
dieser Verwirklicher kurz spreche, müssen Sie mir erlauben, meine
Forderungen zusammenzufassen:
Vermenschlichen! Die Bahnhofsautomaten zu Menschen
machen. Und vor allem die Denkmaschine, den Schlaumeier mit der
Blümchenlösung im Knopfloch nicht mehr idealisieren. Ich
weiss mich einig mit Ihnen in dieser Forderung. Schreiben Sie nicht
auch, er müsse ein Mensch sein? Ich möchte weitergehen. Er
braucht gar nicht findig und geschickt zu sein. Es genügt, wenn er
über Einfühlungsvermögen und einen gesunden
Menschenverstand verfügt. Vor allem aber: Er muss uns nahegebracht
werden und nicht mehr in jenen fernen Höhen schweben, in denen man
nach einem Regen trocken bleibt und in der alle Rasierklingen tadellos
schneiden. Er muss herunter von seinem Sockel, der Schlaumeier! Er muss
reagieren, wie Sie und ich. Versehen wir ihn mit diesen Reaktionen,
geben wir ihm Familie, eine Frau, Kinder – warum soll er immer
Junggeselle sein? Und wenn er doch unbeweibt durchs Leben pilgern soll,
einzig darauf bedacht, kriminelle Rätsel zu lösen, so soll er
wenigstens eine Freundin haben, die ihm das Leben sauer macht … Warum
ist er immer tadellos gekleidet? Warum hat er immer genügend Geld?
Warum kratzt er sich nicht, wenn's ihn beisst, und warum schaut er
nicht ein wenig dumm drein – wie ich –, wenn er etwas nicht versteht?
Warum entschliesst er sich nicht, Kontakt mit seinen Mitmenschen zu
suchen, die Atmosphäre zu erleben, in der die Leute leben, die ihn
beschäftigen? Warum nimmt er nicht teil an deren Schicksal? Warum
isst er nicht mit ihnen zu Mittag und flucht innerlich über die
angebrannte Suppe – wieviel Spannung kann in einer angebrannten Suppe
verborgen sein! – oder hört sich mit ihnen einen Vortrag über
die Ehe von einem berühmten Professor am Radio an? Bei solchen
Darbietungen gehen die Menschen aus sich heraus – sie gähnen. Wie
aufschlussreich kann solch ein Gähnen sein …
Und wenn des Schlaumeiers Stehkragen verschwitzt ist – welche
Offenbarung! Ganz zu schweigen von einem zerrissenen Socken! …
Nein, ich treibe nicht Schindluder,
ich sabotiere unsere Diskussion nicht. Ich habe vom Schicksal
gesprochen, von seiner Unvernunft. Dürfen wir verschweigen, dass
es Formen annimmt, die tragisch und lächerlich zugleich sind?
Dürfen wir vom Schicksal nur dann sprechen, wenn es
glattgebügelt aussieht wie eine Hose, die gerade aus der Werkstatt
des Schneiders kommt, oder wenn es schwarz ist wie ein
frischgefärbtes Trauerkleid?
Bei einem Autor habe ich all das
vereinigt gefunden, was ich bei der gesamten Kriminalliteratur vermisst
habe. Der Autor heißt Simenon, und er hat einen Typus geschaffen,
der, obwohl er einige Vorläufer hatte, nie mit einer solchen
Leidenschaftlichkeit gesehen worden ist: den Kommissär Maigret.
Ein durchschnittlicher Sicherheitsbeamter, vernünftig, ein wenig
verträumt. Nicht der Kriminalfall an sich, nicht die Entlarvung
des Täters und die Lösung ist Hauptthema, sondern die
Menschen und besonders die Atmosphäre, in der sie sich bewegen.
Besonders die Atmosphäre: ein kleiner Hafen und sein
»elegantes« Café – im Gelben Hund; die Schleuse
eines Binnenkanals – im Fuhrmann von der Providence; ein
Provinzstädtlein im Süden – im Verrückten von Bergerac;
ein Pariser Mietshaus – im chinesischen Schattenspiel. Doch wozu die
Liste verlängern? Merkwürdig an diesen Romanen – die
eigentlich längere Novellen sind – ist folgendes: Man bleibt
gleichgültig, im Grunde, gegen die Lösung, obwohl die Fabel
meist nach bewährtem Rezept hergestellt ist. Aber es weht zwischen
den schwarzen Druckzeilen jene Traumluft, es scheint jenes Licht, das
auch die bescheidensten, kleinsten Dinge zum Leben erweckt – zu einem
bisweilen gespenstischen Leben. Der Täter? Er ist ein Mensch unter
anderen, wie es im alltäglichen Leben auch der Fall ist. Und dass
er entlarvt wird, ist gar nicht so wichtig, es gibt kein Aufatmen am
Ende, keinen Theatercoup, die Geschichte hat eigentlich kein Ende, sie
hört auf – es ist ein Abschnitt des Lebens, aber das Leben
läuft weiter, unlogisch, packend, traurig und grotesk zugleich.
Ich möchte Georges Simenon
danken. Was ich kann, habe ich von ihm gelernt. Er war mein Lehrer,
sind wir nicht alle jemandes Schüler? …
Ich schweife ab. Wahrscheinlich
wissen Sie all diese Dinge, die ich vorgebracht habe, viel besser als
ich. Leider habe ich noch nie die Gelegenheit gehabt und das
Vergnügen, einen Ihrer Romane zu lesen. Aber ich bin ganz sicher,
dass alle Vorwürfe, die ich hier gegen die Gattung
»Kriminalroman«, seine »Helden«, seine
»Schlaumeier« erhebe, Sie nicht treffen. Ich bin
überzeugt, dass Sie mit Ihrem Roman 3 Kioske am See großen
Erfolg errungen haben. Wenn mein Brief bisweilen den Eindruck einer
Belehrung erweckt haben sollte, so bitte ich Sie zu glauben, dass mir
dies fern lag. Es handelte sich für mich mehr darum, einige
Gedanken klar formulieren zu können. Und wie soll man dies tun,
wenn man nicht versucht, diese Gedanken in Worte zu kleiden?
In guter Freundschaft verbleibe ich Ihr ergebener
Glauser
---
zitiert nach:
Friedrich Glauser: Wachtmeister Studers erste Fälle, herausgegeben
von Frank Göhre, Arche Verlag 1986, S, 181 - 190
|