Gonzo geht in den Osten: Das große Deutschland-Los oder: Dirty Dancing Dresden
Spannende, nachdenkliche, böse, skurrile, satirische und witzige
Eskapaden: Ruth Borcherding-Witzke und Silvija Hinzmann haben mit
Autorinnen und Autoren aus Ost und West zum 20. Jahrestag des
Mauerfalls eine Sammlung feiner Kurzkrimis zusammengestellt: eine amüsante und reminiszierende
Lektüre, die mit manchem Vorurteil aufräumt.
Spannende,
sarkastische und mörderische Kriminalstorys von Christine Lehmann,
Horst Eckert, Karr & Wehner, Dagmar Scharsich, Martin Conrath, J. Monika Walther,
Petra A. Bauer, Thomas Kastura, Veit Müller und anderen.
Thüringen Journal (MDR) über Karr & Wehner
Das große Deutschland-Los oder: Dirty Dancing Dresden
Von Karr & Wehner
Sie
waren gegen neun losgefahren, Gonzo noch ein bisschen verkatert,
Herbert fit wie ein Turnschuh. Dunkle Wolken trieben von Norden
herunter. Auf der Autobahn schleppten sich Trucks und Reisebusse gen
Osten. Um halb zehn fing es an zu nieseln, fünf Minuten später
prasselte ein Wolkenbruch aufs Wagendach, und noch mal fünf Minuten
später, kurz hinter Kassel, flackerte ein rotes Lämpchen am
Armaturenbrett. Bei Bad Hersfeld brannte es und hinter Eisenach fing
der Wagen an zu ruckeln.
»Scheiße!« Gonzo lenkte den Kombi auf den
nächsten Autobahnparkplatz und kam hinter einem silbernen Zuhälter-BMW
mit getönten Scheiben zum Stehen.
»Was issen?« Herbert
stopfte sein Konzept für »Sandra – 20 Jahre später« samt den
Reservierungen für das Hotel Elbflorenz und dem Stadtplan von Dresden
ins Handschuhfach. Er starrte Gonzo an. »Musstu pinkeln oder was?«
»Panne!«
Gonzo hatte schon das Handy am Ohr. Das Callcenter des ADAC-Notrufs versprach, jemanden zu schicken. »Dauert aber etwas!«
Gonzo erklärte noch mal, wo er stand. »Mitsubishi Kombi, weiß, Gonschorek Videoproduktion TV und Werbung, steht groß dran.«
»Sind Sie das? Dieser Gonschorek?«
»Exakt«, sagte Gonzo. »Und unter uns: Wir drehen -einen Test mit versteckter Kamera über Pannendienste. Alles klar?«
»Danke, dass Sie den Service des ADAC in Anspruch nehmen.«
»Du mich auch!« Gonzo drückte die Verbindung weg.
Es
dauerte eine halbe Stunde, bis endlich ein gelber Engel auftauchte. Der
Regen klatschte und pladderte, die Wagen auf der Autobahn zogen neblige
Wasserfahnen hinter sich her. Herbert hatte sich noch mal die Skripte
von »Sandra sucht …« vorgenommen.
***
Während
der ADAC-Mann im Friesennerz unter der Motorhaube werkelte, fischte
Gonzo den Videoprint der Blondine aus Herberts Zettelwirtschaft. Sandra
stand vor Herberts Redaktionsschreibtisch, in volkseigener Bluse und
DDR-Jeans. Körbchengröße D. Ein bisschen unsicher, die Hände in die
Hüften gestemmt, als ginge es darum, gleich einen Sack Zement zu
schleppen.
Oktober 1989. Hinter ihr balzte Patrick Swayze
vom »Dirty Dancing«-Plakat. Yes, be my baby … Er grübelte über Sandras
Nachnamen. Wäscher? Waschke? Waschinski? Sie hatte im Juni
rübergemacht, war per Autostopp bis nach Hannover gekommen und von dort
aus mit dem Intercity schwarz ins Ruhrgebiet. »Irgendeine Cousine soll
hier leben«, hatte Herbert erklärt. Als Gonzo sie zum ersten Mal
sah, lag sie vollkommen übermüdet auf dem Notbett im Materialraum des
Redaktionsbunkers an der Friedrichstraße. Herbert lieferte von hier aus
für das Regionalfenster des Kölner Senders täglich eine Viertelstunde
»Aktuelles aus dem Revier«. »Sie sagt, in Bottrop oder Wanne
oder Herne. So genau weiß sie das nicht. Da ist eine super Geschichte
drin. Wir helfen ihr, die Cousine zu suchen. So Doku-mäßig, Mini-Serie,
verstehste?«
Gonzo hatte verstanden, auch ohne Herberts
Zwinkern. Was er damals noch nicht ganz verstanden hatte, war, warum
Herbert seine Mini-Dokusoap über die Ossibraut unbedingt selber machen
wollte. Schließlich bestimmte er als Redaktionsleiter über ein halbes
Dutzend hungriger Jungjournalisten und noch hungrigerer Kameramänner.
»Und du machst die Kamera, alles klar?« Alles klar, die
anderthalbtausend für den Job reichten für die nächsten beiden Mieten
und den Sprit, den Gonzo bei seinen Nachteinsätzen verfuhr. Immer mit
einem Ohr am Polizeifunkscanner. Unfälle, Feuerwehreinsätze,
Bullenauftrieb. Die grade frisch geschlüpften Privaten hatten einem die
Bilder von allem, wo ein Blaulicht flackerte, aus der Hand gerissen.
Was für Zeiten! Der Zwei-Wochen-Dreh »Sandra sucht …« mit Herbert
und einem gestressten Tonmann waren die reinste Erholung gewesen.
Sandra auf Meldeämtern. Sandra beim Suchplakate-Aufhängen, Sandra vorm
Bananenstand auf dem Wochenmarkt, Sandra beim Spitzencoiffeur, im
Wellness-Center und beim Body-Waxing. Die Einschaltquoten waren
blendend gewesen. Es gab Anrufe und echte Zuschriften. Und in der
zweiten Woche einen zusätzlichen Werbeblock. ... weiterlesen im "Immer Ärger mit den lieben Verwandten", erschienen im Oktober 2009
Die Geschichte dahinter Gonzo
is back, die zweite Story- Heinrich »Gonzo« Gonschorek, der Videogeier
aus dem
Ruhrgebiet muss diesmal mit seinem Chef Herbert in den Osten. Passend
zum 20. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Als die beiden
Herausgeberinnen wegen einer Story zu diesem Thema bei uns anfragten,
war sofort klar, dass wir mitmachen würden. Denn diese Geschichte gab
uns die Gelegenheit, einen Bogen zurück zu den Gonzo-Abenteuern der
frühen Jahre zu schlagen. Oder umgekehrt: Gonzo aus der Vergangenheit
in die Gegenwart zu holen.
Und als wir dann entdeckten (oder soll ichs agen: uns
erinnerten?) dass 1989 das Jahr war, in dem »Dirty Dancing« in den
Kinos lief, war dann auch der Rest schnell klar...
Ruth Borcherding-Witzke und Silvija Hinzmann (Hg): Immer Ärger mit den lieben Verwandten Kurzkrimis aus Ost und West
217 Seiten Hamburg: Ariadne Krimi bei Argument 2009 ISBN-13: 978-3867541862