Peter Godazgar
Ruhe saft in Sachsen-Anhalt
Kurzkrimis aus dem Land der Frühaufsteher
Guten Morden! 6.39 Uhr. Morgens. Um diese Zeit steht der
Durchschnitts-Sachsen-Anhalter auf. Neun Minuten früher als der
Durchschnitts-Bundesbürger. Klar, dass sich der Sachsen-Anhalter da auch
zeitig hinlegt. Manchmal sogar viel zu zeitig. Und nicht immer
freiwillig, wie 24 namhafte Krimiautoren und einige Neulinge auf dem
Gebiet des Auftragsmords in den Kriminalgeschichten dieser Sammlung
zeigen. Literarische Verbrechen vom Feinsten zwischen Halle und
Magdeburg, Arendsee und Merseburg, Quedlinburg und Köthen.
Mit dabei:
Karr & Wehner
Die Desauer Zelle
Jemand
musste ihn verleumdet haben. Anders konnte er es sich nicht erklären,
dass da plötzlich aus dem Dunkel der Gutenbergstraße der Wagen
auftauchte, den er zuerst für eine Zivilstreife hielt. Es war kurz nach
Mitternacht. Gregor hatte im Tornauer Hof nach dem Essen noch ein paar
Bier getrunken und war auf dem Heimweg, durch die Gutenbergstraße, dann
am Pollingpark entlang und schließlich hinüber zum Lutherplatz, als
sich der Wagen von hinten heranschob und langsamer wurde, bis er im
Schritttempo neben ihm herrollte. Die Seitenscheibe war
heruntergelassen, Gregor sah eine dunkle Gestalt auf dem Beifahrersitz
und erwartete, dass der Wagen gleich wieder beschleunigen würde.
Stattdessen war die Taschenlampe aufgeflammt, der Lichtkegel traf ihn
ins Gesicht wanderte an ihm herunter und wieder hinauf, während er
weiterging und der Wagen neben ihm Schritt hielt.
Er blieb stehen, der Wagen hielt ebenfalls, und noch während Gregor zum Beifahrer hin fragte, ob er ihm helfen könne und was er wolle, waren beide Wagentüren aufgegangen. Der Beifahrer fragte Gregor, wer er sei, ganz ruhig, und während Gregor ihm sagte, dass er Gregor Keller sei, war der Fahrer vorn um den Wagen herumgekommen und hatte einen Meter von ihm entfernt Posten bezogen, eine Pistole mit dem Lauf am Oberschenkel, den Blick wachsam auf Gregor gerichtet, der im Taschenlampenlicht des Beifahrers stand.
Der sagte, dass er jetzt mitkommen werde.
Und
noch während Gregor das Gesagte zu begreifen versuchte, hob der Fahrer
die Waffe und richtete sie direkt auf ihn, während der Beifahrer um ihn
herumging, dabei nach seinem Handgelenk griff, ihm den Arm auf den
Rücken drehte und seinen Oberkörper herunterdrückte.
Gregor wurde in den Fond des Wagens gestoßen, und als die Tür klappte,
wurde Gregor klar, was ihm gleich vom ersten Moment an dem Wagen so
seltsam vorgekommen war. Es war kein Polizeifahrzeug. Es war ein
Leichenwagen.
Als Gregor erwachte, fühlte er sich in eine Schildkröte verwandelt, die
man auf den Rücken gedreht hatte. Das Bett auf dem er lag, war ein
Metallgestell mit einer durchgelegenen Matratze. Mühsam richtete er
sich auf. Die Zelle war kaum größer als zehn Quadratmeter. Die Wände
waren aus unverputztem Beton, in das sich die Holzmaserung der
Schalbretter eingeprägt hatte. In der Ecke stand ein Campingklo.
Gregor war nicht allein.
Der Mann auf dem anderen Bett war Mitte zwanzig, soweit man das bei
seinem dichten Vollbart und dem wirren Haar schätzen konnte. Er war
blass, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er trug einen dunkelblauen
Trainingsanzug, genau wie Gregor. Am rechten Fußgelenk hatte er eine
Schelle, daran eine Kette...
Die Presse über die "Dessauer Zelle":
Ein Serienmörder treibt seit gewisser Zeit sein Unwesen auf dem
Historischen Friedhof in der Muldestadt. Seine bevorzugten Opfer sind
Frauen. Das ruft Kommissar Gregor auf den Plan. Aus Stendal kommt er und
wurde vom Landeskriminalamt in Magdeburg nach Dessau-Roßlau berufen, um
Ermittlungen aufzunehmen. Das Delikate daran: Der Mann kommt vom
Dezernat 55, Abwehr von Extremismus. Denn hinter der Mordserie wird eine
rechtsextreme Terrorzelle vermutet, die unter dem Deckmantel einer
Bürgerwehr ihr Unwesen treibt. Die Affäre reicht bis in höchste Kreise
des Polizeiapparats.
Quelle